„Be water, my friend.“ – Bruce Lee
Meine Erfahrungen auf dem Camino Francés über Wu Wei und den Flow des Lebens
Der Camino Francés hat mich auf eine Weise berührt, die ich nie erwartet hätte. Zuerst habe ich dort wirklich verstanden, was Eckhart Tolle in The Power of Now beschreibt.
Es waren Momente, in denen ich einfach nur ging – ohne Gedanken, ohne das ständige Hin- und Her zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die Welt wirkte still, gleichzeitig klar und intensiv.
Seit dieser Reise lässt mich der Jakobsweg nicht mehr los. Denn es ist nicht nur der Weg selbst, sondern dieser besondere Bewusstseinszustand, der entsteht – der Flow des Lebens.
Bevor ich losging, hatte ich mich viel mit Spiritualität beschäftigt, doch der Daoismus war mir fremd. Erst unterwegs wurde mir bewusst: Der Weg selbst führt in den Flow. Alles andere tritt zurück, und das Gehen geschieht fast von selbst. Es fühlt sich an, als würde ich mit dem Geist gehen, nicht mehr mit bloßer Willenskraft. Jeder Schritt folgt einem inneren Rhythmus, der größer ist als ich selbst.
An einem Nachmittag saßen wir in einem kleinen spanischen Café, tranken Kaffee und lasen aus Spaß den Kaffeesatz unserer Tassen. Jemand fragte mich, was ich sehe, und ohne lange nachzudenken sagte ich: „Wu Wei.“ Ich lachte.
Ich wusste nicht, was das bedeutete – es war Intuition. Später fand ich heraus, dass Wu Wei genau diesen Zustand beschreibt: das Gehen, das Fließen, das Einssein mit dem Moment. So fühlt es sich an, als gäbe es keinen Weg, nur das ewige Jetzt, in dem alles geschieht.
Wu Wei – Bedeutung und Ursprung
Wu Wei (無為) stammt aus der daoistischen Philosophie und taucht erstmals im Dao De Jing (道德經) von Laozi auf (ca. 4.–5. Jh. v. Chr.). Später wird das Konzept auch im Zhuangzi weiter ausgeführt.
Die beiden Schriftzeichen bedeuten:
- 無 (wú) – „nicht“, „ohne“, „leer“
- 為 (wéi) – „tun“, „handeln“
Wörtlich heißt es „Nicht-Handeln“ oder „Handeln ohne Anstrengung“.
Wu Wei ist keine Passivität. Es beschreibt ein Handeln, das im Einklang mit dem natürlichen Fluss des Lebens steht – ohne Zwang, ohne Ego, ohne Widerstand.
聖人處無為之事,行不言之教
„Der Weise handelt durch Nicht-Handeln, lehrt ohne Worte.“
(Dao De Jing, Kapitel 2)
Der Weise wirkt, ohne sich selbst als Handelnden zu sehen. Daher lässt er die Dinge geschehen – und genau dieses Gefühl kann man auf dem Jakobsweg erleben.
Weitere Informationen über das Dao De Jing findest du hier: Dao De Jing Übersicht
Laozi, Wu Wei und der Flow des Lebens im Zusammenhang mit dem Jakobsweg
Laozi beschreibt in seinen Schriften, dass Flow entsteht, wenn wir uns dem Dao hingeben, dem natürlichen Rhythmus des Lebens. Jeder Schritt, jede Begegnung und jedes kleine Ereignis ist Teil des Ganzen. Wer sich diesem Fluss öffnet, erlebt immense Ruhe Klarheit und Freude am Sein.
Auf dem Jakobsweg wird das besonders deutlich. Anfangs kämpfte ich zwischenzeitlich gegen Müdigkeit, die langen Strecken und meine eigenen Erwartungen an den Camino. Zu Beginn hatte ich oft nur das Ziel vor Augen, anstatt mich „nur“ auf das Jetzt zu fokussieren. Ich fragte mich immer wieder, wie viele Kilometer noch? Doch irgendwann verschwand diese Frage und damit auch der Widerstand. Es fühlte sich fast an, als würde ich mit dem Geist gehen, nicht mehr mit bloßer Willenskraft. Die Schritte kamen fast wie von selbst- Wie bei einem Automatismus.
Flow nach Laozi bedeutet nicht Stillstand oder Passivität. Es ist ein natürliches Mitfließen, ein Ankommen im Moment, ohne dass man diesen erzwingen muss. Zunächst hört sich das paradox und irrational an, aber genau das ist die Hauptaussage von Wu Wei: Handeln, ohne sich anzustrengen; Sein, ohne diese Handeln zu erzwingen.
Somit trug mich der Weg, der Moment, das Leben selbst. Jeder Schritt fühlte sich leicht an. So ist es, als gäbe es keinen Weg – nur das ewige Jetzt, in dem alles fließt.
Fazit – Der Jakobsweg geht weiter
Der Jakobsweg endet nicht in Santiago. Stattdessen geht er weiter – in jedem Schritt, in jeder Begegnung, in jedem Moment.
Wu Wei erinnert daran, dass das Leben selbst der Weg ist. Alles entfaltet sich, wenn wir es geschehen lassen. Vielleicht beginnt genau hier das wahre Pilgern und Wandern: im Vertrauen, dass jeder Schritt – auch ohne festes Ziel – richtig ist.
Im folgenden YouTube-Video findest du eine wunderschön illustrierte und inspirierende Erklärung des Prinzips Wu Wei, das perfekt zu meiner Erfahrung auf dem Jakobsweg passt: Lao Tzu – The Art of Not Trying
Quelle: Youtube- After Skool


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